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    Das Kriegsende in Lüneburg

    Alltag zwischen Erleichterung, Verdrängung und Neubeginn

    Wie die Lüneburger:innen die letzten Kriegstage 1945 und die Zeit danach erlebten, hat Dr. Thomas Lux, Leiter der Stabsstelle Stadtgeschichte und Erinnerungskultur bei der Hansestadt Lüneburg, auf dieser Seite zusammengetragen.

    Auch eine sehenswerte Multimedia-Reportage der Landeszeitung (LZ) beschäftigt sich in Wort, Schrift und Bewegtbild mit dem Thema. Das Projekt ist zum 70. Jahrestag des Kriegsendes entstanden. Wir stellen es hier mit freundlicher Genehmigung der Chefredaktion zur Verfügung.

    Weiße Laken statt Hakenkreuzflaggen: Die Stadt wird von den Briten besetzt

    Der Krieg für Lüneburg endete am 18. April 1945, als britische Truppen die Stadt und die Umgebung besetzten. Der zuständige Wehrmachts-Kommandeur Oberstleutnant Helmuth von Bülow sah angesichts der näher kommenden britischen Armee keinen Sinn in einer militärischen Verteidigung der Stadt. Der für den Regierungsbezirk Lüneburg zuständige Gendarmerie-Major Alfred Sehrt schloss sich dem an. 

    Politischen Widerstand gegen diese Entscheidung gab es nicht: Der Gauleiter, der NSDAP-Parteigenosse Otto Telschow, war „abgetaucht“ – wie die meisten NSDAP-Funktionäre und das sonstige politische Leitungspersonal in Stadt und Land.

    Als gegen 14.30 Uhr die britischen Panzer vor dem Rathaus standen, übergab der stellvertretende Oberbürgermeister Hans Hauschildt die Stadt; der damalige Oberbürgermeister Wilhelm Wetzel war als Wehrmachtsoffizier in Jugoslawien.

    Der 20. April war eigentlich ein besonderes Datum im Festtagskalender der Deutschen und Lüneburger:innen: „Führergeburtstag“. Statt der Hakenkreuzflaggen mussten nun weiße Laken aus den Fenster gehängt werden, die englische Militäradministration bestand darauf. 

    In Lüneburg war die NS-Zeit vorbei, aber nicht abgeschlossen und vergessen. Eine Zeit der Verdrängung, aber auch der Aufarbeitung begann. Sie dauert bis heute an.

    Info

    Oberstleutnant Helmuth von Bülow (1. Reihe, Mitte).
    Foto: Urheberschaft unbekannt. Stadtarchiv Lüneburg/LZ-Archiv

    Lüneburg: Eine unzerstörte Stadt zwischen Angst, Not und Freiheit

    Zusammen mit dem britischen Militärpersonal hielten sich zum Jahresende 1945 etwas mehr als 80.000 Menschen in der Stadt auf, deren Wohnbevölkerung vor 1939 noch bei 38.000 gelegen hatte. Im Vergleich zur Vorkriegszeit hatte sich die Zahl der Menschen in Lüneburg also mehr als verdoppelt. 

    Darunter waren schutzsuchende Menschen, die aus den östlichen Landesteilen des Deutschen Reiches vor der vorrückenden Roten Armee geflohen waren, und Menschen, die in Hamburg „ausgebombt“ worden waren. Allein in den verschiedenen Lazaretten der Wehrmacht lagen etwa 4.000 kranke und verwundete Wehrmachtsangehörige.

    Dazu kamen noch hier gestrandete Truppenteile der Wehrmacht, des „Volkssturm“, Familien aus Flandern in Belgien und den Niederlanden: letztere fast alle Sympathisanten der NS-Ideologie. 

    Und es waren Menschen in der Stadt, die aus ganz Europa, vor allem aus Polen, Weißrussland und der Ukraine als Zwangsarbeiter verschleppt worden waren.

    Wohnraum war daher extrem knapp, die Lebensbedingungen waren sehr hart. Die Lebensmittelversorgung brach faktisch zusammen. Die Freigabe von Wehrmachts-Verpflegungslagern half ein wenig, aber nicht genug.

    Dazu kamen Sorgen um die Angehörigen, die in der Wehrmacht gedient hatten: die Jugendlichen, die noch zur Hitlerjugend, zum BDM („Bund Deutscher Mädel“) oder gar zum „Volkssturm“ eingezogen worden waren. Die Sorge galt auch Verwandten und Freunden, die „ausgebombt“ worden waren oder von denen man wusste, dass sie hatten fliehen müssen.

    Info

    1945: Schlangestehen auf dem Lüneburger Wochenmarkt.
    Foto: Hildegard Garbade. Stadtarchiv Lüneburg/LZ-Archiv

    Info

    1945: Flüchtlingstrecks in der Großen Bäckerstraße.
    Foto: Hildegard Garbade. Stadtarchiv Lüneburg/LZ-Archiv

    Verkündung vom Rathaus-Balkon: Der Krieg in Europa ist vorbei

    Am 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Oberst Stansfeld, neuer Stadtkommandant von Lüneburg, verkündet dies vom Balkon des Lüneburger Rathauses mit folgenden Worten: 

    „Einwohner von Lüneburg! Die deutsche Wehrmacht hat bedingungslos vor den alliierten Streitkräften kapituliert.“

    Darüber, wie viele Menschen zu dem Zeitpunkt anwesend waren, gibt es unterschiedliche Angaben. Historische Aufnahmen des Imperial War Museum (IWM) zeigen einen mit Menschenmassen gefüllten Lüneburger Marktplatz. 

    Zeitzeugen berichteten, dass der Marktplatz während der Proklamation so gut wie leer gewesen sei. 

    Info

    Die Menschen auf dem Lüneburger Marktplatz erfahren von der deutschen Kapitulation. So ist das als Bildbeschreibung des Imperial War Museum (IWM) nachzulesen.
    Foto: IWM (BU 5669)

    So geht es weiter: Erster Nachkriegsbürgermeister und zwei Selbsttötungen

    Die Stadtverwaltung arbeitete zunächst weiter, nachdem die bekanntesten NS-Funktionäre und Parteigenossen entlassen worden waren. 

    Als erster Nachkriegsbürgermeister in Lüneburg wurde Hermann Lange (17. Juli 1945 bis 31. März 1946) eingesetzt. 

    Am 22. August 1945 nahm der „Stadtausschuß“ seine Arbeit auf, der einen ersten „Beirat“ aus unbescholtenen Bürgern ablöste. 

    Am 01. September 1945 wurde Werner Bockelmann als Oberbürgermeister eingesetzt. Er sollte dann ab 1947 als erster Oberstadtdirektor die Geschicke Lüneburgs in der Nachkriegszeit und in den ersten Jahren der Bundesrepublik maßgeblich beeinflussen.

    Die erste freie Kommunalwahl seit 1932/33 fand am 13. Oktober 1946 statt. Mit 23 von 32 Sitzen war die SPD die absolut stärkste Fraktion. Oberbürgermeister wurde Ernst Braune (SPD).

    Gauleiter und SS-Reichsführer nehmen sich in Lüneburg das Leben

    Am 31. Mai 1945 erlag Gauleiter Otto Telschow im Krankenhaus „seiner Gauhauptstadt“ Lüneburg seinen selbst zugefügten Verletzungen. 

    Nicht weit davon entfernt, in der Uelzener Straße, brachte sich in britischem Gewahrsam Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS, selbst um. Er war bei Kriegsende „untergetaucht“ und kam so in einer Verhörsituation seiner Enttarnung zuvor. Mit dem Namen Himmler verbinden sich die finstersten und grauenvollsten Erinnerungen an den Holocaust, Terror, Folter und den mörderischen Elitewahn der SS.

    Info

    Dr. h. c. Werner Bockelmann war von 1945 bis 1946 Lüneburgs Oberbürgermeister und von 1947 bis 1955 Oberstadtdirektor. Gemälde von Adolf Schlawing aus der Galerie der Stadtoberhäupter. 
    Foto: Hansestadt Lüneburg

    Die Toten von Wilschenbruch

    Am 11./12. April 1945 ließen Stadtverwaltung und andere beteiligten NS-Dienststellen von Zwangsarbeitern Massengräber ausheben - für die getöteten und ermordeten KZ-Häftlinge eines Transportzuges:  

    Rund um den 7. April 1945 war (kurz vor Kriegsende) das schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Lüneburger Boden ausgeübt worden: Der Lüneburger Bahnhof wurde bombardiert. 

    Dabei wurden auch Güterwagen getroffen, in denen fast 400 KZ-Häftlinge aus dem Außenlager des KZ Neuengamme (Hamburg) Alter Banter Weg bei Wilhelmshaven zusammengepfercht waren. Von den Überlebenden wurden die meisten in das KZ Bergen-Belsen geschafft. 80 Häftlinge, die zurückbleiben mussten, weil sie zu schwach waren, wurden von der Wachmannschaft getötet. 

    Insgesamt wurden mehr als 250 Tote im Tiergarten bei Wilschenbruch verscharrt. 

    Das Massengrab lag in einem in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Waldstück (Tiergarten beim Ortsteil Wilschenbruch). Die Toten wurden dort völlig unwürdig bestattet. Die Grabstätte wurde nicht gekennzeichnet und gegenüber den Briten zunächst verschwiegen.

    Anfang September 1945 wurde die britische Verwaltung dann doch informiert. Die Briten und ihre Alliierten waren über dieses „Schweigekartell“ in Lüneburg empört. Am 27. September 1945 ließen die Briten die zwei Massengräber öffnen. Es wurde eine Liste mit den Namen Lüneburger Nationalsozialisten, die für die Exhumierung zwangsverpflichtet wurden, erstellt. 

    Die Vorgänge um das Grab im Tiergarten erregten in der Stadt große Aufmerksamkeit. Die Lokalzeitung berichtete. 243 Leichen wurden geborgen, medizinisch untersucht, identifiziert, was nicht immer gelang, und dann würdevoll bestattet, ebenso noch elf jüdische und zwei aus der Sowjetunion stammende Opfer. 

    Es gelang der britischen Militärregierung, den Transportleiter des Häftlingstransportes und andere Verantwortliche für den Mord an den KZ-Häftlingen zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Ein zweites Verfahren endete für den Transportleiter, einen dänisch-deutschen SS-Mann namens Gustav Jepsen, mit der dann vollstreckten Todesstrafe. 

    Der Ehrenfriedhof im Tiergarten wurde zu einem wichtigen Lüneburger Erinnerungsort, der jedoch innerhalb der Stadtgesellschaft nicht unumstritten war. 

    Ehrenfriedhof im Tiergarten, Tafel 3: 

    „Die Geschichte des Ehrenfriedhofs spiegelt somit die jeweils an Zeit, Kontext und Interessen gebundene Erinnerungskultur der Nachkriegsjahrzehnte in besonderer Weise wider und mahnt zu Demokratie und Frieden.“ 

    Am 23. April 2023 wurde der neugestaltete Ehrenfriedhof feierlich neu eingeweiht.

    Info

    Kriegsgräberstätte Tiergarten/Ehrenfriedhof 29. September 1945: Nach der Öffnung des Massengrabes heben Zwangsverpflichtete die Leichname zur Exhumierung und Umbettung aus.
    Foto: United States Holocaust Memorial Museum (Foto 97052). Kopie Stadtarchiv Lüneburg/LZ-Archiv

    Info

    Einweihungsfeier am 23. April 2023: Informative Text- und Bildtafeln am Rande des Ehrenfriedhofs im Tiergarten machen nun aus dem Ort einen neuen Gedenk- und Lernort in Lüneburg. 
    Foto: Hansestadt Lüneburg

    Der Bergen-Belsen-Prozess

    Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen, 60 Kilometer nordöstlich von Hannover. Es war ein Ort des Schreckens, des Grauen; es starben bis Ende Juni 1945 noch 14.000 von den 60.000 Überlebenden.

    Link: LemO 

    Vom 17. September bis zum 17. November 1945 fand in dem weitgehend unzerstörten Lüneburg vor einem britischen Militärgericht der sog. Bergen-Belsen-Prozess (Belsen-Trial) statt. Angeklagt wurden 44 Mitglieder des Lagerkommandos des KZ Bergen-Belsen, darunter der Kommandant Josef Kramer, aber auch KZ-Aufseherinnen wie die mit Anfang 20 noch junge Irma Greese.

    Link: Gedenkstätte B-B 

    Weil viele der Angeklagten wie Kramer vor ihrer Zeit in Bergen-Belsen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz eingesetzt worden waren, beschloss das Gericht, die dort verübten Verbrechen ebenfalls zu verhandeln

    Es war der erste rechtstaatliche Prozess gegen NS-Gewaltverbrechen auf deutschem Boden. Es wurde britisches Recht angewandt.
    Ziel war es, den Deutschen in einem ordentlichen, einer Demokratie würdigen rechtstaatlichen Verfahren das unvorstellbare Grauen offenzulegen, die Täterinnen und Täter zu überführen, gegebenenfalls auch zu entlasten, und nach Recht und Gesetz zu verurteilen.

    Um die zahlreichen nationalen und internationalen Pressevertreter:innen unterzubringen, aber auch um möglichst viele Deutsche anzusprechen, beschlagnahmte die englische Militärregierung die MTV-Turnhalle und beauftragte den Lüneburger Magistrat mit den nötigen Umbaumaßnahmen. So hatte man insgesamt 400 Zuschauerplätze in der MTV-Turnhalle aufbauen lassen.

    Die Deutschen sollten mit den Greueltaten in den Konzentrationslagern konfrontiert werden. Aber die Resonanz fiel eher verhalten aus: "Die Lüneburger waren überhaupt nicht begeistert, dass das in ihrer Stadt stattfinden sollte. Es gab sehr viele Vorbehalte, man hatte Angst, dass man mit diesen Verbrechen in einen Topf geworfen wird", weiß John Cramer, der intensiv zu dem Verfahren geforscht hat.

    Quelle: John Cramer, Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 

    Das Verfahren endete mit 11 Todesurteilen, unter anderem für Josef Kramer und Irma Grese, die in Hameln (heute NRW) vollstreckt wurden und meist langjährigen Haftstrafen. Aber 15 Angeklagte wurden freigesprochen. Die deutsche Justiz führte nur ein einziges Gerichtsverfahren durch, dass die in Bergen-Belsen verübte Straftaten zum Gegenstand hatte.

    Noch Anfang der 1960iger Jahre wurde die MTV-Turnhalle in Lüneburg als „Belsen-Halle“ bezeichnet. Das Gebäude wurde 1976 abgerissen; der damalige Neubau wurde im Herbst 2020 abgerissen.

    Info

    Noch Anfang der 1960iger Jahre wurde die MTV-Turnhalle an der Lindenstraße 30 in Lüneburg als „Belsen-Halle“ bezeichnet. Das Gebäude wurde 1976 abgerissen.
    Foto: IWM (BU 10374)

    Info

    Das Innere des Gerichtssaals in der MTV-Turnhalle, die zehn Tage vor Beginn der Prozesse umgebaut wurde.
    Foto: IWM (BU 10366)