Musik gegen das Vergessen: Stiftung in Kreisau erhält Hosenfeld-Szpilman-Preis 2023
Presseinformation der Universitätsgesellschaft Lüneburg und der Museumsstiftung Lüneburg
Preisverleihung erinnert an die berühmte Rettung des polnischen Pianisten durch den deutschen Offizier 1944 (bekannt aus dem Film „Der Pianist“)
Lüneburg. Am 17. November 1944 entdeckt ein deutscher Offizier einen jüdischen Pianisten in dessen Versteck in Warschau. Anstatt ihn zu erschießen, versorgt er ihn und rettet ihm das Leben. Nach den beiden Männern ist heute eine Auszeichnung für Projekte der Erinnerungskultur benannt: Der Hosenfeld-Szpilman-Preis. Er geht in diesem Jahr an die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung für ihr internationales Kammermusikfestival Krzyżowa-Music.
Zur Preisverleihung im Libeskind-Bau der Leuphana Universität Lüneburg war Festivalleiter Dr. Matthias von Hülsen gemeinsam mit vier langjährigen Beteiligten des Krzyżowa-Festivals gekommen: Miriam Helms Alien (Violine), Pablo Barragán (Klarinette), Alexey Stadler (Cello) und Amadeus Wiesensee (Klavier).
„Sie geben uns Hoffnung“, sagte die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan in ihrer Laudatio in Richtung der Musizierenden. „Sie glauben unbeirrbar an die Frieden und Freude stiftende Kraft der Musik. Musik ist der Königsweg der Verständigung.“ Dass es nach dem deutschen Angriffskrieg in Europa zur Versöhnung kam, sei ohne die Großzügigkeit der Nachbarländer nicht möglich gewesen. Es brauche eine „mutige Auseinandersetzung mit Schuld“. Ziel des Kammermusikfestivals sei es, die Erbschaft von Leid und Vorurteil zu überwinden.
Die Begegnung zwischen dem deutschen Offizier Wilm Hosenfeld und dem polnischen Pianisten Władysław Szpilman nannte Schwan eine „tief bewegende und tröstende menschliche Begegnung“. Nachdem der Soldat den Juden in dessen Versteck in Warschau entdeckt hatte, versorgte er ihn über Wochen mit Kleidung, Decken und Lebensmitteln. Als Hosenfeld selbst in Kriegsgefangenschaft kam, versuchte Szpilman, seinen Retter zu befreien. Es gelang ihm nicht. Hosenfeld starb 1952 im Lager Stalingrad.
„Es war die Musik, die sie verband“, sagte Polens Generalkonsul Pawel Jaworski in seinem Grußwort über die Männer, die eigentlich Feinde hätten sein müssen. „Wir sehen: Das Unmögliche kann geschehen. Wir dürfen nie die Hoffnung und den Glauben verlieren, auch in schwierigen Zeiten.“ Bezogen auf den Krieg Russland gegen die Ukraine sagte er: „Wir sind nicht machtlos. Wir sind solidarisch. Es ist die Erfahrung der Versöhnung, die uns Mut macht.“
Das Festival findet einmal im Jahr auf Gut Kreisau (Polnisch: Krzyżowa) in der Nähe von Breslau statt: dem Ort, an dem der Kreisauer Kreis rund um das Ehepaar von Moltke während des Zweiten Weltkrieges Entwürfe für ein friedliches Europa der Nachkriegszeit ersann. „An diesem Ort Musik zu machen, ist für alle Beteiligten deutlich mehr als professioneller Alltag. Sie reflektieren als Bürger in dieser zerklüfteten Welt“, sagte Matthias von Hülsen in seinen Dankesworten. Er war Kinderarzt in Hamburg und Mitbegründer des Schleswig-Holstein Musik Festivals, später Gründer und langjähriger Intendant der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern und ist Träger des Verdienstkreuzes am Bande. Während des Festivals proben junge und etablierte Musizierende aus ganz Europa gemeinsam Musikstücke aus allen Epochen und diskutieren dabei die Frage, wie sie sich mit Musik für Frieden in Europa einsetzen können.
In Lüneburg spielten die vier Festival-Musiker:innen bei der Preisverleihung im Zentralgebäude der Leuphana Universität unter anderem Ausschnitte aus dem Quartett für das Ende der Zeit, komponiert von Olivier Messiaen im Kriegsgefangenenlager Görlitz in den Jahren 1940/41. Morgens hatten sie zudem ein Lüneburger Gymnasium besucht und mit den jungen Menschen über das Quartett und den historischen Kontext gesprochen. „Man kann mit Musik etwas über Geschichte lernen“, sagte der russische Cellist Alexey Stadler im Anschluss an die Preisverleihung. „Musik gibt Antworten auf Fragen, wie es weitergehen kann. Wir setzen uns mit unserer Musik für etwas ein, das alles ist außer selbstverständlich: den europäischen Frieden.“
Zu der Preisverleihung reisten auch Mitglieder der Familie Hosenfeld an. „Mein Vater ist ein Beispiel dafür, dass man im Krieg menschlich sein konnte“, sagte Dr. Jorinde Krejci-Hosenfeld am Rande der Feier, letztes der fünf Kinder Wilm Hosenfelds. „Dieser Preis ist für uns sehr ehrenvoll. Es ist wichtig, dass gezeigt wird: Ein deutscher Offizier konnte auch anders. Es ist wichtig, den jungen Leuten heute zu sagen: Ihr tragt nicht die Schuld an dem, was passiert ist. Aber ihr habt die Verantwortung, dass es nicht wieder passiert.“
Der Hosenfeld-Szpilman-Preis wurde zwischen 2005 und 2017 durch die Leuphana Universität Lüneburg verliehen. 2023 vergab erstmals ein Kuratorium aus Universitätsgesellschaft Lüneburg, Museumsstiftung Lüneburg und Hansestadt Lüneburg den Preis. Zu den externen Jurymitgliedern zählen Prof. Dr. Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, Dr. Elke Gryglewski, Leiterin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und Prof. Dr. Joachim Tauber, Direktor des Nordost-Instituts in Lüneburg.
Die Auszeichnung ist verbunden mit einem Preisgeld in Höhe von 5.000 Euro. Finanziert wird der Hosenfeld-Szpilman-Preis vom Rotary Club Lüneburg und der Hansestadt Lüneburg.
Das Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg wurde von dem (jüdischen) Architekten Daniel Libeskind entworfen.
Weitere O-Töne aus den Redebeiträgen:
Prof. Dr. Heike Düselder, Direktorin des Museums Lüneburg und Vorsitzende der Universitätsgesellschaft: „Dieser Preis ist ein Element der Erinnerungskultur. Das Projekt Krzyżowa-Music ist getragen von dem Gedanken an Freundschaft. Gerade vor dem Hintergrund des Krieges in Europa zeigt es: Kultur ist imstande, Großes zu bewegen. Musik verbindet Grenzen und setzte Zeichen. Die Jugend in Europa hat die Kraft und das Potenzial, eine Welt zu retten, die aus den Fugen geraten scheint.“
Claudia Kalisch, Oberbürgermeisterin der Hansestadt Lüneburg: „Dieser Preis symbolisiert Menschlichkeit, die bewegt, tief berührt und Hoffnung gibt. Er steht für Zivilcourage und stellt Fragen an alle von uns. Der Preis ist ein Zeichen dafür, dass wir Geschichte nicht Geschichte sein lassen. Jetzt ist die Zeit, da Geschichte wieder aktuell wird: Wir haben Krieg mitten in Europa. Die Preisträger:innen tragen dazu bei, dass Mauern und Grenzen in den Köpfen gar nicht erst entstehen. Die Musiker:innen stehen für ein Europa der Solidarität und des Friedens.“
Friedhelm Hosenfeld, Enkel von Wilm Hosenfeld, wohnhaft nahe Flensburg: „Dieser Preis hat eine besondere Bedeutung für unsere Familie. Und er erinnert uns an unsere aktuelle Aufgabe: Verantwortung für den anderen zu übernehmen. Wie ist unser Großvater zum Widerstandshandeln gekommen, obwohl er Hitlers Machtübernahme begrüßt hatte? Durch die wachsende Erkenntnis über das vermehrte Unrecht. Seinen Spielraum nutzte er mutig. Er ist das Vorbild eines Menschen, der seinem Gewissen treu geblieben ist. Das Projekt Krzyżowa-Music füllt die europäische Verständigung in idealer Weise mit Leben.“
Dr. Andrzej Szpilman, Sohn von Władysław Szpilman, wohnhaft in Zürich (als Geleitwort per Post): „Als ich das Buch ,Der Pianist‘ bearbeitete, hielt mein Vater das für Zeitverschwendung. Heute ist es in 43 Sprachen übersetzt und von Roman Polański verfilmt worden. Dieser Preis ist wichtig. Er ist der Beweis, dass es in Lüneburg gute Menschen gibt, die an den Frieden glauben. Wilm Hosenfelds Taten werden in Deutschland nur halbherzig gewürdigt. Ich werde nicht ruhen, bis es in Berlin eine Wilm-Hosenfeld-Straße gibt.“
Prof. (HSG) Dr. Sascha Spoun, Präsident der Leuphana Universität Lüneburg: „Was Sie heute erleben, ist gelebte Zivilgesellschaft.“
Biografische Informationen
Wilm (eigentlich Wilhelm) Hosenfeld, geboren am 2. Mai 1895 in Mackenzell bei Fulda. Ab 1927 Leiter der Volksschule in Thalau bei Fulda. Er starb am 13. August 1952 im Kriegsgefangenenlager in Stalingrad.
Władysław Szpilman, geboren am 5. Dezember 1911 in Sosnowiec im heutigen Polen. Ab 1935 Hauspianist beim Polnischen Rundfunk. Als einziges Mitglied seiner Familie überlebte er den Holocaust. Er starb am 6. Juli 2000 in Warschau.
Die Verleihung des Hosenfeld-Szpilman-Preises 2023 im Zentralgebäude der Leuphana Universität Lüneburg. Foto: Teresa Halbreiter
Die Geschichte einer menschlichen Begegnung inmitten des Krieges
Am 17. November 1944 begegnen sich der deutsche Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld und der polnische Pianist Władysław Szpilman zum ersten Mal. Szpilman, Jude, hielt sich in einem Haus mitten im zerstörten Warschau versteckt. Dort entdeckte ihn Hosenfeld. Auf dessen Frage nach seinem Beruf antwortete Szpilman „Pianist“. Daraufhin forderte Hosenfeld ihn auf, etwas auf dem in dem Gebäude befindlichen Klavier zu spielen. Szpilman spielte das Chopin- Nocturne cis-Moll Nr. 20.
In den nächsten Wochen versorgte der Wehrmachtsoffizier den Juden mit Kleidung, Decken und Lebensmitteln und rettete ihn so vor dem nahen Hunger- und/oder Erfrierungstod. Władysław Szpilman überlebte als einziges Mitglied seiner Familie den Holocaust.
Geboren am 5. Dezember 1911 als Sohn eines Geigers, studierte Władysław Szpilman Anfang der 1930er-Jahre in Berlin Klavier und Komposition. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, ging er zurück nach Warschau und setzte sein Studium dort fort. Ab 1935 war er Hauspianist des Polnischen Rundfunks. Sein letztes Konzert spielte er am 23. September 1939. Kurz danach wurde der Sender zerstört.
Geboren am 2. Mai 1895 als viertes von sechs Kindern eines Dorfschulmeisters, wurde der gläubige Katholik Wilm Hosenfeld Lehrer und leitete ab 1927 eine Volksschule nahe Fulda. Schon im April 1933 schloss er sich der SA an, 1935 der NSDAP. Lange glaubte er der Propaganda. Später setzte er sein eigenes Leben aufs Spiel, um andere zu retten. Hunderte Briefe und Tagebücher sind vom ihm erhalten. Darin nennt er deutsche Soldaten „Bestien“ und den Krieg eine „unaustilgbare Schande“.
Zu Szpilman sagte Hosenfeld auf dessen Frage, ob er Deutscher sei: „Ja, ich bin Deutscher und schäme mich dafür.“
Kurz nach Kriegsende hatte Szpilman von Hosenfelds Gefangenschaft erfahren und versucht, ihn zu retten. Aber er wusste seinen Namen nicht und konnte ihm nicht helfen. 1946 nannte Szpilman Hosenfeld den „einzigen Menschen“ in deutscher Uniform, dem er begegnet sei.
Nachdem er später den Namen seines Retters erfahren hatte, fuhr er 1957 zu der Adresse, die er zu dem Namen herausfand. Dort traf er auf Annemarie Hosenfeld. Sie erzählte ihm, dass ihr Mann Wilm fünf Jahre zuvor im Kriegsgefangenenlager Stalingrad gestorben sei.
Szpilman erzählte der Witwe seine Geschichte, und Annemarie Hosenfeld erfuhr erst in diesem Moment, dass ihr Mann 1944 einem Pianisten das Leben gerettet hatte.
Die Kinder und Enkelkinder haben noch heute Kontakt.
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